Alleine das Gefühl, früh aufzustehen und sich durch die noch leeren Straßen der Linzer Innenstadt auf den Weg zum Mariendom zu machen, ist etwas Besonderes. Die Sommerbrise ist noch kühl und es herrscht kaum ein Geräusch in der sonst so lebendigen Stadt. Vor dem Mariendom fällt mein Blick auf die große Uhr am Turm des Domes, die 6.15 Uhr anzeigt. Noch einmal werde ich mir der angenehmen Stille bewusst.
Beim Domportal warten bereits einige Menschen, die am heutigen Morgen wohl meine Begleiterinnen und Begleiter sein werden. Alois Mayer, unser Meditationsleiter, öffnet die Pforten, beschreibt kurz den Ablauf der heutigen Morgenmeditation und bittet uns ins Innere des Sakralbaus. Dabei teilt er Kerzen aus.
Das individuelle Erleben
Schon beim Betreten spüre ich die angenehm kühle Luft auf der Haut und bin überrascht, wie dunkel es im Dom noch ist. Zwischen den Kirchenbänken bis hin zu unserem Versammlungsort im Altarraum leuchten uns liebevoll aufgestellte Kerzen den Weg. Weihrauchduft liegt in der Luft. Während wir uns in den ersten 15 Minuten frei durch den Mariendom bewegen, um voll im Erleben des Raumes aufgehen zu können, erfüllt zur Stimmung passende Musik den Raum und vertieft die meditative Stimmung. Ich bin überwältigt vom besonderen Lichtspiel der Fenster, der ehrfurchtgebietenden Weite und Höhe des Domes – und ich werde innerlich ganz still, während ich mich durch den Raum bewege.
Das gemeinsame Erleben
Nach dieser individuellen Erkundung – sowohl des Domes als auch meines Inneren – führt mein Weg zur gemeinsamen Mitte im Altarraum: Hier treffe ich wieder auf die anderen Menschen, die an der Morgenmeditation teilnehmen. Wir versammeln uns und nehmen auf Bänken, Stühlen oder Meditationshockern Platz – ganz so, wie es einem gefällt. In unserer Mitte steht eine große, mit Sand gefüllte Schale, in der wir die eingangs erhaltenen Kerzen anzünden und in den Sand stecken. Wir verbringen weitere 15 Minuten in kontemplativer Stille, die wir dazu nutzen können, in uns zu gehen oder die unglaubliche Architektur des Domes im morgendlichen Licht zu bestaunen. Ab und an dringen mit Autohupen oder Sirenen Geräusche des Alltags zu uns vor, doch wir scheinen im Mariendom auf angenehme Weise entrückt zu sein. Heute kann die Welt noch warten.
Nach einem meditativen Gesang stimmt Alois Mayer mit ein paar persönlichen Worten auf das heutige Friedensgebet ein, das wir miteinander beten. Ein gemeinsames „Vater unser“ schließt die Morgenmeditation ab. Auf individuellen Wegen und in unserem eigenen Tempo nehmen wir uns nochmals die Zeit, die wir brauchen, um uns für den anstehenden Alltag zu „wappnen“, der draußen vor den Toren des Mariendoms auf uns wartet. Das Übertreten der Schwelle und damit der Schritt zurück in unser Leben soll möglichst bewusst erfolgen.
Perspektivenwechsel
Beim Verlassen des Domes weist Mayer uns darauf hin, dass im Anschluss an die Morgenmeditation noch die Möglichkeit besteht, zum Turm hochzusteigen. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Gerne möchte ich den Dom noch länger in dieser besonderen, morgendlichen Stille erleben. In einer kleineren Gruppe steigen wir die Hälfte des Turmes hoch und treten auf die Balustrade hinaus, die einen wunderbaren Blick auf Linz ermöglicht. Unter uns erwacht langsam die Stadt zum Leben und wir blicken auf Gärten, Dachterrassen und Pools hinab. Mir wird bewusst, wie grün Linz hinter seinen grauen Häuserfassaden ist. Gleichzeitig philosophiert Mayer über Perspektivenwechsel. Er erklärt, dass der Blick vom Turm hinab einen anderen Weg eröffnet, die Dinge zu sehen. Und genau darin liege auch der Sinn von Gebet, Meditation und Stille – auch sie ermöglichen neue Sichtweisen.
Abschließende Gedanken
Als ich den Turm wieder hinabsteige und mich auf den Weg ins Büro mache, fühle ich mich auf angenehme Weise frei, beschwingt und entschleunigt. Ich bin tatsächlich überwältigt vom positiven und erdenden Gefühl, das die Morgenmeditation bei mir hinterlassen hat. Viel zu selten gönnt man sich bewusst die Zeit, in sich zu gehen und ganz bei sich zu sein. Und ich weiß, dass dieser Donnerstagmorgen bestimmt nicht der letzte gewesen ist, den ich im Mariendom verbracht habe…